Ein Volk von Islamspezialisten
Von der eigenen Religion haben viele Christen wenig Ahnung. Aber an Stammtischen und in Leserbriefspalten wimmelt es von Islamkennern.
Die Kolumne in der Serie „Unkommod“ von Lukas Niederberger in: „Ostschweiz am Sonntag“ und „Zentralschweiz am Sonntag“ am 8. Oktober 2017
Kaum ein Tag vergeht, an welchem der Islam nicht öffentliches Thema ist. Kopftuch, Gesichtsschleier, Händeschütteln, Minarett, radikale Prediger, Koranverteilungen, Terroranschläge, Burkini, Schwimmzwang, Schächten und und und. Viele Stammtisch-Zampanos verkünden lauthals ihre Meinung zu all diesen Themen, obwohl sie sich seit der Sekundarschule in religiösen Fragen kaum weitergebildet haben und nur mit Mühe die eine oder andere Figur der Trinität nennen können. Und trotz Omnipräsenz des Islam in den Medien haben seit dem 11. September 2001 nicht das Wissen über den Islam und das Interesse daran zugenommen, sondern vielmehr die Vorurteile und Feindbilder. Abgrenzung statt Dialog lautet die Devise.
Viele Christen erlauben sich Urteile über den Islam, selbst wenn das Wissen nicht über die fetten Titel der Boulevard-Presse hinausgeht. Viele Christen verurteilen den Islam wegen des «Jihad», weil sie darunter wie die jungen Fanatiker einen konventionellen Krieg gegen Andersgläubige verstehen. «Jihad» bedeutet aber dasselbe wie «Aszese» in der christlichen Mystik – also das Ringen mit dem eigenen Ego.
Manche Christen verfassen auch unbedarft Leserbriefe über die Rolle der unterdrückten Frau im Islam und ignorieren dabei, dass Paulus und Thomas von Aquin die Genderdiskussionen im Christentum bis heute stärker prägen als Simone de Beauvoir und Alice Schwarzer.
In vielen Diskussionen und in den Medien taucht auch regelmässig der Ausdruck «Islamisten» auf. Mit diesem Begriff wird der Islam undifferenziert entwertet. Noch nie kam es einem Journalisten in den Sinn, Kreuzritter oder radikale irische Gruppen als Christisten, Katholizisten oder Protestantisten zu nennen. Wenn Menschen (in diesem Fall 99% Männer) aus einem Mix von Ideologie, Gruppendruck, Anerkennungsmangel, Drogenkonsum und Hormonstau Terror mit der Etikette Religion ausüben, so ist es höchst fragwürdig, diese Leute als Vertreter dieser oder jener Religion zu bezeichnen. Das Wort Islamist sollten wir darum aus unserem Wortschatz streichen. Wie aber sollen wir diese Typen bezeichnen? Würden wir sie «Instrumentalisten» schimpfen, weil sie eine Religion vereinnahmen, dürften Orchestervereine intervenieren. Würden wir sie Idioten nennen, würden wir die hirngewaschenen Krieger auf die gleiche Ebene stellen wie jene, die nachts um vier grölend vom Ausgang heimtorkeln, wie Hunde die Wände markieren und die Bierdosen auf den Boden werfen wie Dreijährige ihre Legosteine. Und würden wir sie «Testosteronisten» nennen, würden friedensbewegte Männer aufjaulen. Letztlich sind sie wie die RAF der 70er Jahre schlicht und ergreifend fanatische Terroristen.
Wenn Christen über den Islam schreiben oder sprechen, ist grundsätzlich Zurückhaltung angesagt. Vor allem sollte man zuvor reflektieren, wie sich gewisse Phänomene in der eigenen Religion verhalten. Bald schon werden zahllose Leserbriefe im Zusammenhang mit der Abstimmung über ein nationales Verhüllungsverbot erscheinen. Mir schwant Schlimmes. Die ehemaligen Religionslehrer der Leserbriefautoren werden sich die Haare raufen oder ausreissen, so sie noch welche haben.