Ein verzerrtes Bild: Warum der „albanische Islam“ in der Schweiz mehr ist als Kopftuch und Gehorsam
Gastbeitrag von Ana Gjeci, Doktorandin im SNF-Projekt am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft
Als ich den Artikel „Albanischer Islam in der Schweiz“ in der Sonntagszeitung vom 11. Oktober 2025 las, blieb ich mit einem ambivalenten Gefühl zurück. Die Autorin beschreibt Bilder von kleinen Mädchen mit Kopftuch und zieht daraus den Schluss, dass der sogenannte albanische Islam in der Schweiz konservativer geworden sei. Zwischen den Zeilen schwingt die Sorge mit, dass sich etwas Fremdes und Rückschrittliches in die Schweizer Gesellschaft einschleicht. Doch diese Darstellung greift zu kurz und wiederholt ein Muster, das in der Berichterstattung über Muslim:innen immer wieder zu beobachten ist.
Der Artikel spricht von einem homogenen „albanischen Islam“, als handle es sich um eine einheitliche Bewegung. In Wirklichkeit ist die albanisch-muslimische Bevölkerung in der Schweiz sehr vielfältig: ethnisch, sprachlich, sozial und religiös. Sie umfasst Menschen, die ihre Religion kaum praktizieren, ebenso wie jene, die in ihr eine spirituelle Orientierung finden. Wenn jedoch pauschal von „den albanischen Moscheen“ die Rede ist, verschwinden diese Unterschiede hinter einem einzigen Bild: jenem der verschleierten Frau und des gehorsamen Mädchens. Der Artikel beschreibt, aber er hört nicht zu.
Diese Reduktion ist nicht harmlos, denn sie schafft eine Erzählung, in der weibliche Körper zum Gradmesser gesellschaftlicher Entwicklung werden. Das Kopftuch erscheint als Symbol mangelnder Gleichberechtigung, nicht als religiöses oder kulturelles Zeichen, das je nach Person, Familie oder Generation unterschiedliche Bedeutungen tragen kann. Wenn in der Berichterstattung über Frauen gesprochen wird, ohne dass eine von ihnen zu Wort kommt, verwandelt sich die Sorge um Gleichberechtigung in einen paternalistischen Blick.
Hinzu kommt, dass der Wandel vor allem visuell belegt wird, mit Facebook-Fotos, auf denen verschleierte Mädchen zu sehen sind, und daraus weitreichende Schlüsse gezogen werden. Sichtbare Religiosität wird gleichgesetzt mit wachsendem Konservatismus, ohne dass die sozialen oder familiären Kontexte beachtet werden. Dass Kinder bei Festen oder Koranstunden religiöse Kleidung tragen, muss nicht bedeuten, dass sie zu einer bestimmten Weltanschauung erzogen werden. Religiöse Sichtbarkeit ist kein Beweis für gesellschaftliche Abkehr, sondern Ausdruck verschiedener Formen von Zugehörigkeit und Identität.
Auffällig ist auch der Umgang mit wissenschaftlichen Bezügen. Der Artikel verweist auf Studien, die eine konservative Wende des albanischen Islams belegen sollen, nennt sie aber nicht und erklärt auch nicht, unter welchen Bedingungen sie entstanden sind. Dadurch wird eine Behauptung in den Raum gestellt, ohne empirisch oder kontextuell nachvollziehbar zu machen, worauf sie sich stützt. Forschung wird hier als rhetorisches Mittel eingesetzt, nicht als Quelle der Differenzierung.
Besonders problematisch ist die Darstellung der Herkunftsländer. Es wird behauptet, der Islam habe in Albanien, im Kosovo, in Nordmazedonien und Montenegro traditionell eine untergeordnete Rolle gespielt und die Menschen seien dort kaum religiös gewesen. So entsteht der Eindruck, dass eine ursprünglich areligiöse Bevölkerung erst in der Schweiz «konservativ» geworden sei. Diese Vorstellung ignoriert historische Zusammenhänge. Dass Religion in der albanischen Nationsbildung des 19. Jahrhunderts weniger betont wurde, hatte politische Gründe. Im Kontext des Zerfalls des Osmanischen Reiches und der europäischen Nationalstaatsbildung war Religion ein sensibles Thema, das schnell als Frage der Loyalität verstanden wurde. Die Betonung von Sprache und Ethnie war damals eine Strategie zur Sicherung nationaler Einheit, nicht Ausdruck einer grundsätzlichen Religionsferne.
Diese vereinfachte Darstellung blendet zudem die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts aus. In Albanien war Religion während der kommunistischen Zeit nicht nur unerwünscht, sondern ab 1967 gesetzlich verboten. Religiöse Symbole, Rituale und Zugehörigkeiten wurden unterdrückt, viele Gläubige verfolgt oder öffentlich gedemütigt. Auch im damaligen Jugoslawien war Religion zwar offiziell erlaubt, stand aber unter starkem ideologischen Druck und wurde aus dem öffentlichen Leben weitgehend verdrängt. Die vermeintliche «Areligiosität» vieler Albaner:innen war daher weniger Ausdruck moderner Säkularität als Folge politischer Repression. Dass heute manche ihre religiöse Zugehörigkeit sichtbarer leben, kann auch als Versuch verstanden werden, sich dieses Teils der eigenen Identität wieder anzueignen.
Diese Deutung versteht sich als Perspektive einer Forscherin, die sich mit Islam, Geschichte und gesellschaftlichen Dynamiken beschäftigt und zugleich aus einer albanischen Erfahrung heraus schreibt. Ziel ist es nicht, eine absolute Wahrheit zu formulieren, sondern eine weitere Sichtweise in die Diskussion einzubringen und aufzuzeigen, dass religiöse Ausdrucksformen nicht isoliert, sondern in ihren historischen und sozialen Kontexten verstanden werden müssen. Wer diese historischen Bedingungen ausblendet, konstruiert eine künstliche Gegenüberstellung zwischen einem vermeintlich religionslosen „alten“ Albanertum und einem religiösen „neuen“ Diaspora-Islam. Dadurch entsteht das Bild einer Entfremdung, wo in Wirklichkeit komplexe Prozesse von Identitätsbildung stattfinden. Religiöse Wiederbelebung ist nicht notwendigerweise Rückschritt, sondern kann auch Ausdruck einer Suche nach Orientierung in einer pluralen und globalisierten Welt sein.
Der Artikel ist zudem stark von einer säkular-liberalen Normativität geprägt. Er setzt voraus, dass die Massstäbe von Schweizer Säkularismus und Gleichstellung allgemeingültig seien und jede Form sichtbarer Religiosität eine Abweichung darstelle, die es zu erklären oder zu korrigieren gilt. Diese Haltung bleibt unreflektiert und wirkt wie ein unsichtbarer moralischer Rahmen, innerhalb dessen Religiosität nur dann akzeptabel ist, wenn sie unsichtbar bleibt. Ironischerweise fordert der Text Offenheit und Pluralität, während er gleichzeitig definiert, was als «offen» und «plural» gelten darf. Was heisst in diesem Zusammenhang überhaupt „konservativ“? Konservativ im Verhältnis zu wem, gemessen an welchen Normen? Solange diese Fragen unausgesprochen bleiben, wird Pluralität zur leeren Formel, die nur innerhalb einer kulturell festgelegten Normalität funktioniert.
Auch die Wortwahl trägt zu dieser moralischen Hierarchisierung bei. Begriffe wie „ultrakonservativ“, „Pflicht zu gehorchen“ oder „am Herd“ erzeugen einen zivilisatorischen Kontrast zwischen „ihren“ rückständigen Normen und „unserer“ modernen Aufgeklärtheit. Sie suggerieren ein kulturelles Gefälle, das nicht nur trennt, sondern auch moralisch bewertet. Anstatt unterschiedliche Wertorientierungen als Bestandteil gesellschaftlicher Vielfalt anzuerkennen, werden sie in eine Fortschrittslogik eingeordnet, in der nur eine Lebensweise als richtig gilt.
Die albanisch-muslimischen Gemeinden in der Schweiz sind jedoch weit vielfältiger, als diese Darstellungen vermuten lassen. Viele engagieren sich gesellschaftlich, andere im interreligiösen Dialog. Junge Menschen verhandeln täglich ihre Zugehörigkeit zwischen Herkunft und Heimat. Manche tragen Kopftuch, andere nicht. Einige setzen sich kritisch mit patriarchalen Strukturen auseinander, andere finden gerade in der Religion einen ethischen Rahmen, der sie stärkt. Diese Vielfalt findet im Artikel keinen Raum.
Zudem zieht der Beitrag Parallelen zwischen Schweizer Imamen und umstrittenen Predigern vom Balkan. Solche Verbindungen können relevant sein, erfordern aber Differenzierung. Wenn pauschal von „radikalen Predigern“ die Rede ist, ohne deren Einfluss oder Reichweite zu belegen, entsteht ein Klima des Verdachts. Dadurch wird die gesamte Gemeinschaft in eine defensive Position gedrängt, anstatt Dialog und Vertrauen zu fördern.
Medien tragen in solchen Fragen eine besondere Verantwortung. Islamische Gemeinschaften sind Teil dieser Gesellschaft und verdienen dieselbe journalistische Fairness wie andere religiöse Gruppen. Kritik an konservativen Tendenzen ist legitim, aber sie sollte auf überprüfbaren Fakten, Kontextwissen und verschiedenen Stimmen beruhen. Dazu gehört, Betroffene, Fachleute und insbesondere Frauen selbst einzubeziehen. Nur so kann Berichterstattung zu einem Beitrag des Verstehens werden, nicht der Polarisierung.
Dass Religion in der albanischen Diaspora heute sichtbarer wird, ist kein Schweizer Sonderfall, sondern Teil einer globalen Neuorientierung. In pluralen Gesellschaften suchen Menschen nach Sinn, Zugehörigkeit und moralischer Orientierung. Dieses Bedürfnis kann in unterschiedliche Richtungen führen: zu Rückzug oder zu Öffnung. Ob religiöse Praxis emanzipatorisch oder restriktiv wirkt, entscheidet sich nicht am Kopftuch, sondern an der Haltung, mit der sie gelebt wird.
Die öffentliche Debatte über Islam und Gleichberechtigung braucht Genauigkeit, Geduld und Neugier. Vielleicht wäre es ein guter Anfang, wenn Muslim:innen nicht immer nur als Thema behandelt werden, sondern als Gesprächspartner:innen. Denn wer die Vielfalt sehen will, muss auch bereit sein, zuzuhören.
