«Die Gegenüberstellung 'Schweizer und Islam' ist absurd»

Eine Umfrage zeigte kürzlich, dass doppelt so viele Schweizer sich vom Islam bedroht fühlen als vor 13 Jahren. Ist das berechtigt? Amira Hafner-Al Jabaji, Islamwissenschaftlerin und SRF-Moderatorin, über die Angst vor dem Islam, die Vielfalt unter den Muslimen und Religionsfreiheit.

Frau Hafner-Al Jabaji, gemäss einer Umfrage des Sonntagsblicks hat sich die Zahl der Schweizer, die den Islam als Bedrohung empfinden, in den letzten 13 Jahren verdoppelt. Spüren Sie als Muslimin dies im Alltag? Der Denkrahmen, der hier vorgenommen wird, macht mir mehr Sorgen als alle Umfragewerte. Schon die Gegenüberstellung «Schweizer und Islam» ist absurd. Über ein Drittel der Muslime in der Schweiz haben die Schweizer Nationalität. Die Frage nach dem Islam im Kontext von Bedrohung muss geradezu solche Umfragewerte liefern, sie ist hochgradig suggestiv. Diese Unterstellungen spüre ich im Alltag nicht nur, ich bin von ihnen mehrfach betroffen.
Wie? Es ist kaum noch möglich über den Islam zu sprechen ohne dieses Bedrohungsszenario. Wir sollten aber nicht länger so tun, als habe das alles bloss auf die Muslime Auswirkung. Es hat Folgen für die ganze Gesellschaft, darauf, wie wir als Menschen miteinander umgehen, auf unser Vertrauen in die Gesellschaft und Institutionen, in unsere Nachbarn und Familie. Überall schleicht sich dieses Misstrauen ein.
Im Zentrum des Verdachts stehen zurzeit die Moscheen. Tatsache ist, dass die allermeisten Muslime in der Schweiz selten bis nie eine Moschee besuchen und kaum je einen Imam um Rat fragen. Warum werden die Moscheen so hochgespielt? Weil wir den Islam aus der christlichen Perspektive betrachten, gemäss der Religion ohne die Institution Kirche schlicht nicht denkbar ist. Im Islam verhält sich dies anders. Es gibt keine Lehrinstanz, die mir sagt, was und wie ich zu glauben habe. Eine islamische Gemeinschaft konstituiert sich nicht aufgrund einer Mitgliedschaft in einem Verein oder einer Kirche, sondern aufgrund der gemeinsamen Glaubenspraxis.
Verständigung und Vertrauensbildung sind die Eckpfeiler Ihres Engagements … Sie nennen das «Eckpfeiler meines Engagements»? Es sind die Werte unserer Gesellschaft. Nicht mehr und nicht weniger. Vertrauen und Verständigung sind ein urmenschliches Bedürfnis, das zu keinem Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte obsolet wurde.
In Europa und der Schweiz wachsen die Unsicherheit und die Angst vor dem Islam. Ist der Ansatz zur Verständigung gescheitert? Diese Frage beantworte ich Ihnen gerne anhand eines anderen realen Beispiels: In der Schweiz leben – man halte sich fest – 800‘000 funktionale Analphabeten, Menschen, die die Schule absolviert haben und dennoch als Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben können. Jetzt müssten sie die Zuständigen fragen, ob der Ansatz von Bildung für alle und die Volksschule gescheitert sind.
Weltweit befindet sich der fundamentalistische Islam mit Hilfe von Saudi-Arabien und anderen arabischen Ländern auf dem Vormarsch. Haben da in Zukunft die gemässigten Muslime eine Chance, ihren Glauben zu leben, ohne bedroht zu werden. Die Sache ist viel komplizierter. Es gibt wesentlich mehr Faktoren und Länder, die den Fundamentalismus begünstigen als Saudi-Arabien. Es gibt Dynamiken, die wir stärker in den Fokus rücken sollten: In den religiösen Gesellschaften im Orient, in denen hohe Repression herrscht und im Namen der Religion alles vorgeschrieben und bis ins Privatleben kontrolliert wird, wächst die Zahl der «muslimischen Atheisten». Das geschieht vor allem in Saudi-Arabien und im Iran. Eine zweite hohe Dynamik geht von der historisch einmaligen Situation aus, dass noch nie so viele Muslime in nichtislamischen Gesellschaften lebten. Die innerislamische Vielfalt ist in diesen Gesellschaften so hoch wie nie zuvor.
Was bedeutet das? Das bedeutet, dass die verschiedenen islamischen Lebensweisen in Europa und anderswo konkurrenzieren. «Gewinnen» wird auf Dauer, wer sich am besten an die Gegebenheiten anpassen kann, ohne den Kern des islamischen Glaubens aufzugeben. Ich persönlich bin überzeugt, dass sich die radikal-fundamentalistischen Kräfte, die den Islam ausschliesslich als Normsystem verstehen, nicht durchsetzen werden, sondern jener Islam, der ganzheitlich verstanden und gelebt wird und alle Dimensionen des Menschseins gleichermassen berücksichtigt.
In einigen islamischen Ländern werden Muslime, die öffentlich zu anderen Religionen konvertieren, mit dem Tod bedroht oder ermordet. Wie wichtig ist die Religionsfreiheit für den Islam? Religionsfreiheit ist im Islam etwa so wichtig wie im Christentum. Es waren die Aufklärung und der moderne Rechtsstaat, die dies gegen den Widerstand der Kirche durchgesetzt haben. Der Zeitgeist hat sich heute geändert, die meisten Christinnen und Christen akzeptieren die freie Wahl und den Wechsel in eine andere Religion. Selbst Atheisten haben heute keine Schwierigkeiten mehr. Die Frage lautet also weniger, wie wichtig dem Islam die Religionsfreiheit ist, als vielmehr, wie wichtig sie den Muslimen ist. Hier verweise ich auf Studien, die besagen, dass die in Europa lebenden Muslime zunehmend den Wechsel und die freie Wahl der Religion befürworten. Kürzlich hat der Mufti von Sarajevo genau das in einem Schreiben an die bosnischen Muslime in der Schweiz eingefordert. Andererseits: Ich erfuhr kürzlich von einer Familie im Jura, die zum Islam konvertierte und danach von Menschen in ihrem Umfeld massive Bedrohungen erhielt. Es gibt noch viel zu tun in Sachen Akzeptanz.
Artikel  wurde übernommen von kirchenbote-online, Karin Müller, 2. Oktober 2017