Neutralität heisst nicht Unsichtbarkeit
Ein Gastkommentar „Der Staat muss nicht nur Religiöse schützen, sondern auch Areligiöse“ fordert, Lehrpersonen müssten sich weltanschaulich neutral kleiden, um die negative Religionsfreiheit der Kinder zu sichern. Auf den ersten Blick klingt dies plausibel. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass hier ein verkürztes Verständnis von Religionsfreiheit vorliegt, das Integration behindert und Vielfalt in Schulen künstlich unterdrückt.
Zwar ist es richtig, dass der Staat keine Religion bevorzugen darf. Doch Neutralität bedeutet nicht Unsichtbarmachung, sondern Gleichbehandlung. Wer das Kopftuch einer Lehrerin verbieten will, müsste in gleicher Konsequenz auch Kippas, Kreuze oder andere weltanschauliche Symbole untersagen. Tut er dies nicht, verfehlt er den Kern der Neutralität und betreibt eine einseitige Diskriminierung.
Darüber hinaus verkennt das Argument, Glaubensfreiheit sei lediglich ein Abwehrrecht. Sie beinhaltet ebenso die positive Freiheit, den eigenen Glauben oder die eigene Überzeugung sichtbar zu leben. Ob mit Kopftuch, Kreuz oder Blumenkranz im Haar – entscheidend ist, dass die Wahl frei erfolgt. Ein staatliches Verbot aber verwandelt Freiheit in Zwang und widerspricht damit dem Geist des Grundrechts.
Eine Religion ist erst dann wirklich in einer Gesellschaft angekommen, wenn ihre Gläubigen auch staatliche Aufgaben übernehmen dürfen. Wer Musliminnen den Zugang zum Lehrerberuf erschwert, verweigert ihnen Teilhabe und vermittelt indirekt das Signal, dass Integration sogar zum Preis einer teilweisen Selbstverleugnung erwünscht ist. Die betroffenen Lehrerinnen betonen nämlich unablässig, dass das Tragen eines Kopftuchs eine Lebenseinstellung ist und nicht dem Betreten eines touristischen hop-on hop-off Busses entspricht, bei dem dieses Kleidungsstück je nach Tageszeit variieren soll. Ein solcher Ansatz ist nicht inklusiv, sondern ausschliessend.
Die prominente Befürchtung, Schülerinnen könnten durch das Kopftuch einer Lehrerin unter Druck geraten, entbehrt jeglicher fundierten Grundlage. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass Kinder durch Vielfalt lernen. Sie erleben, dass Unterschiede existieren, ohne dass diese bedrohlich sein müssen. Gerade diese Normalität schützt sie vor der Anfälligkeit für Vorurteile und rassistische Denkmuster. In der Schulklasse sind Kopftuchträgerinnen unübersehbar in der Minderheit. Wenn überhaupt Druck entsteht, dann kommt er meist aus anderen Richtungen: durch Lehrpersonen, die islamische Symbole als suspekt vermitteln, den Mainstream oder durch öffentliche Stimmen, die muslimischen Mädchen Rückständigkeit und die Unterstützung patriarchaler Strukturen unterstellen. Diese Mechanismen prägen den Alltag viel stärker als das Vorbild einer Lehrerin, die ihren gewünschten Beruf ausüben möchte.
Auffällig bleibt dabei ein weiterer Aspekt, der in der öffentlichen Debatte kaum reflektiert wird: Es sind auffallend oft Männer, die mit Nachdruck und Vehemenz darüber diskutieren, wie muslimische Frauen sich in der Schule zu kleiden hätten. Dass ausgerechnet im Jahr 2025 Männer in der Mehrheit darüber bestimmen wollen, was Frauen anziehen dürfen oder nicht, ist ein beklemmendes Signal. Dieser Standpunkt richtet sich uneingeschränkt auch gegen jeglichen Druck, das Tragen des Kopftuchs zu erzwingen. Die Diskussion um Neutralität droht hier erneut zur Bühne für bevormundende Geschlechterpolitik zu werden – und verkennt, dass Selbstbestimmung und Gleichstellung nicht durch Restriktion, sondern durch Vertrauen und Augenhöhe erreicht werden.
Lehrkräfte werden nicht wegen eines Kleidungsstücks eingestellt, sondern aufgrund ihrer pädagogischen und fachlichen Kompetenz. Eine Biologielehrerin unterrichtet keine Mathematik, und eine Lehrerin mit Kopftuch erteilt ebenso wenig Religionsunterricht. Sollte jemand missionarisch auftreten, greifen ohnehin klare schulische Regeln mit berechtigten Konsequenzen. Das Kopftuch allein ist kein Beleg für eine unerlaubte Einflussnahme auf die Schüler.
Gerade angesichts des dramatischen Mangels an Lehrpersonal ist es widersinnig, motivierte und qualifizierte Frauen aus dem Schuldienst auszuschliessen. Wer diesen Schritt fordert, handelt nicht im Interesse der Kinder, sondern auf Kosten des gesamten Bildungssystems. Dabei fällt auf, dass Kleidungsverbote fast ausschliesslich am Islam festgemacht werden. So entsteht ein verzerrtes Bild, das pauschale Ängste schürt und Misstrauen verstärkt, anstatt die versprochene Neutralität zu wahren.
Wenn Integration jedoch nicht zur Farce werden soll, müssen wir die Chancen zur Teilhabe eröffnen, anstatt Brücken abzureissen. Frauen, die sich mit Engagement und Fachwissen in den Dienst der Bildung stellen wollen, verdienen Unterstützung, nicht Ausschluss. Ein echter Fortschritt wäre es, wenn Kinder selbstverständlich erleben, dass ihre Lehrerinnen verschieden aussehen und unterschiedlich glauben können – und dennoch denselben Auftrag erfüllen: schulische Bildung vermitteln.
Neutralität im Staat bedeutet daher nicht, Religion aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, sondern jede Religion gleich zu behandeln. Kinder von heute sollten lernen, dass es keine Rolle spielt, ob ihre Lehrerin ein Kopftuch, eine Kippa oder ein Kreuz trägt, solange sie kompetent und respektvoll unterrichtet. Alles andere ist ein Kampf gegen Scheingefahren – und eine vertane Chance für eine wahrhaft offene Gesellschaft.
Da die FIDS im Gastkommentar direkt angesprochen wurde, sei zum Schluss betont: Unser Standpunkt ist kein Einspruch gegen die weltanschaulich neutrale Staatsschule. Im Gegenteil – er ist ein Beleg dafür, dass Neutralität dann verwirklicht ist, wenn alle sichtbar sein dürfen. Echtes Engagement schliesst nach unserer Auffassung nicht aus, sondern ein.